Die Vier Mahāvākyas – Die Großen Aussagen des Vedanta
Diese vier Sätze stammen aus den Upanishaden und sind das Herzstück der Advaita Vedanta-Lehre. Sie sollen den Schüler zur Erkenntnis der Einheit von Atman (individuelles Selbst) und Brahman (universelles Bewusstsein) führen. Jeder Satz beschreibt denselben Sachverhalt aus einer anderen Perspektive.
1. Prajnanam Brahma (प्रज्ञानं ब्रह्म) – „Bewusstsein ist Brahman“
- Herkunft: Aitareya-Upanishad (Rigveda)
- Bedeutung: Alles, was existiert, ist letztlich Bewusstsein. Brahman ist kein Objekt oder eine Person, sondern reines, unbegrenztes Bewusstsein. Das Bewusstsein, das du in dir selbst erfährst, ist dasselbe Bewusstsein, das das gesamte Universum durchdringt.
- Übung: Meditation über Bewusstsein
- Setze dich still hin und beobachte deine Gedanken.
- Erkenne: Wer ist es, der diese Gedanken wahrnimmt?
- Erkenne, dass das Wahrnehmende selbst nicht verändert wird, egal welche Gedanken auftauchen.
- Vertiefe dich in die Erkenntnis, dass dieses Bewusstsein nicht individuell, sondern universell ist.
- Unterschied zum Buddhismus:
- Der Buddhismus (insbesondere Zen und Theravada) würde sagen: „Bewusstsein entsteht und vergeht, es gibt kein dauerhaftes Bewusstsein.“
- Advaita Vedanta sagt: „Das Bewusstsein selbst ist unvergänglich. Es ist Brahman.“
2. Aham Brahmasmi (अहम् ब्रह्म अस्मि) – „Ich bin Brahman“
- Herkunft: Brihadaranyaka-Upanishad (Yajurveda)
- Bedeutung: Diese Mahavakya ist eine direkte Selbsterkenntnis. Wenn du erkennst, dass Bewusstsein nicht begrenzt ist, dann ist dein eigenes Selbst (Atman) nichts anderes als Brahman.
- Du bist nicht der Körper, nicht die Gedanken, nicht die Gefühle – sondern das unendliche Bewusstsein selbst.
- Übung: Selbst-Inquiry nach Ramana Maharshi
- Frage dich: „Wer bin ich?“
- Jedes Mal, wenn eine Antwort kommt („Ich bin ein Mensch“, „Ich bin Arzt“, „Ich bin derjenige, der denkt“), stelle weiter die Frage: „Wer ist sich dessen bewusst?“
- Finde heraus, dass alle Antworten vergänglich sind, aber das „Ich-bin-Bewusstsein“ bleibt bestehen.
- Schließlich erkennst du, dass dein wahres Selbst jenseits aller Begrenzungen ist.
- Unterschied zum Buddhismus:
- Der Buddhismus lehnt die Vorstellung eines unveränderlichen „Ichs“ ab.
- Advaita sagt: „Ich bin nicht das Ego, sondern das absolute Bewusstsein.“
- Der Buddhismus würde fragen: „Wenn du Brahman bist, warum ist dieses Ich dann vergänglich?“
- Advaita antwortet: „Das, was vergeht, bin nicht ich. Ich bin das Bewusstsein selbst.“
3. Tat Tvam Asi (तत् त्वम् असि) – „Das bist Du“
- Herkunft: Chandogya-Upanishad (Samaveda)
- Bedeutung: Dies ist eine Aussage des Lehrers an den Schüler. Der Lehrer erklärt dem Schüler:
- Das, was du suchst, das höchste Göttliche, ist nicht außerhalb von dir – du bist es bereits.
- Es gibt keine Trennung zwischen dir und Brahman.
- Wenn du das erkennst, gibt es kein „Ich“ und „du“ mehr – nur Einheit.
- Übung: Spiegel-Meditation
- Setze dich vor einen Spiegel und schaue tief in deine eigenen Augen.
- Erkenne, dass du nicht die Form bist, die du siehst – sondern das Bewusstsein, das durch deine Augen schaut.
- Schließe deine Augen und erkenne, dass dasselbe Bewusstsein durch alle Wesen blickt.
- Erkenne: „Das, was ich in mir sehe, ist dasselbe, was in allen anderen lebt.“
- Unterschied zu Dhyana-Yoga:
- Dhyana-Yoga (Meditations-Yoga) ist ein Übungsweg, um durch Meditation die Erfahrung der Einheit zu machen.
- Vedanta beginnt direkt mit der Erkenntnis. Es sagt: „Du musst nicht erst durch jahrelange Meditation gehen – du bist bereits das Höchste.“
- Dhyana-Yoga würde sagen: „Meditation ist nötig, um die Wahrheit direkt zu erfahren.“
- Vedanta sagt: „Erkenne es JETZT. Meditation kann hilfreich sein, aber nicht nötig.“
4. Ayam Atma Brahma (अयम् आत्मा ब्रह्म) – „Dieses Selbst ist Brahman“
- Herkunft: Mandukya-Upanishad (Atharvaveda)
- Bedeutung: Diese Aussage bestätigt, dass dein individuelles Selbst (Atman) nicht verschieden von Brahman ist.
- Es gibt kein höheres Selbst außerhalb von dir – das, was du als dein „innerstes Sein“ erfährst, ist bereits das Absolute.
- Diese Aussage bezieht sich oft auf den Zustand des Turīya, den vierten Bewusstseinszustand jenseits von Wachen, Träumen und Tiefschlaf.
- Übung: Bewusstsein im Schlaf erforschen
- Vor dem Einschlafen sage dir: „Ich werde mir im Schlaf meines Bewusstseins bewusst bleiben.“
- Versuche, im Traum oder im Tiefschlaf zu bemerken, dass du existierst.
- Erkenne: Das Bewusstsein bleibt, auch wenn der Körper ruht.
- Das zeigt, dass dein wahres Selbst unabhängig von Körper und Geist ist.
- Unterschied zum Buddhismus:
- Der Buddhismus würde sagen: „Es gibt kein dauerhaftes Selbst. Auch das Bewusstsein ist nur eine vergängliche Erscheinung.“
- Advaita sagt: „Das, was jenseits aller Veränderungen ist, ist dein wahres Selbst – es ist Brahman.“
- Buddhismus zielt auf „Nirvana“ (die Auflösung des Selbst in Leere), während Advaita auf „Moksha“ (die Erkenntnis der Einheit) zielt.
Unterschiede zwischen Vedanta, Buddhismus und Dhyana-Yoga
Aspekt | Advaita Vedanta | Buddhismus | Dhyana-Yoga |
---|---|---|---|
Natur der Realität | Alles ist Bewusstsein (Brahman) | Keine feste Realität, nur vergängliche Prozesse | Realität kann durch Meditation erkannt werden |
Selbst (Atman) | Identisch mit Brahman | Es gibt kein festes Selbst (Anatta) | Durch Meditation kann man das Selbst transzendieren |
Ziel | Einheit mit Brahman erkennen | Nirvana: Auflösung des Selbst | Durch Meditation Samadhi (Einheitsbewusstsein) erfahren |
Weg | Direkte Erkenntnis durch Vedanta-Lehre | Entleerung des Selbst | Meditation, Stufenweg zur Erfahrung |
Kurz gesagt
- Vedanta ist eine direkte Erkenntnislehre. Sie sagt: „Du bist bereits das Höchste.“
- Buddhismus betont Vergänglichkeit. Er lehrt, dass es kein festes Selbst gibt.
- Dhyana-Yoga ist ein Weg der Meditation. Er führt durch Stufen der Versenkung zur Erfahrung der Einheit.
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