Es gibt Menschen, die das Rauschen der Welt nicht als Heimat, sondern als Schleier empfinden – als etwas, das sie davon abhält, das Eigentliche zu hören. Diese Menschen ziehen sich nicht zurück, um sich zu entziehen, sondern um zu hören, was nur in der Tiefe hörbar wird: das leise, unsagbare, schöpferische Wort hinter allen Worten.
Ein Eremit ist kein Aussteiger. Er ist ein Einsteiger in das Unsichtbare, in das, was bleibt, wenn alles Äußere verstummt. Die Einsamkeit, die er sucht, ist nicht die der Isolation, sondern eine radikal andere Form von Beziehung – nicht zur lauten Welt, sondern zur Welt im Innern. Er kehrt sich nicht ab, sondern wendet sich zu: der Tiefe, dem Ursprung, dem Unnennbaren.
Was wie Verzicht aussieht – kein Besitz, keine Gespräche, keine Zerstreuung – ist in Wahrheit eine Einladung zu einer anderen Art von Fülle: einer, die nicht gemacht, sondern empfangen wird.
Eine Fülle, die nicht durch Anhäufung entsteht, sondern durch Loslassen.
Eine Präsenz, die wächst, je stiller es wird.
Viele Eremiten leben allein, manche leben mit anderen. Aber in beiden Fällen ist es nicht die äußere Trennung, die sie zum Eremiten macht – es ist die innere Hinwendung.
Zur Quelle. Zur Wahrheit. Zum Wesentlichen.
Im christlichen Abendland zogen sich Eremiten in die Wüste zurück – wie Antonius, der sich selbst durch Versuchung und Dämonen hindurch zu einem reinen Hören disziplinierte. Im Osten lebten buddhistische Waldmönche in Hütten, wo sie den Wandel des Geistes beobachteten, ohne ihn festzuhalten. In modernen Zeiten zieht es manche Menschen in kleine Häuser im Wald, andere in Stille-Retreats, manche in virtuelle Einsiedeleien mitten im Alltag.
Der Impuls ist derselbe:
Nicht der Welt zu entfliehen – sondern sich selbst zu begegnen, bevor man sich wieder der Welt schenkt.
Vielleicht ist das Eremitentum kein Lebensstil, sondern eine innere Haltung, die jeder Mensch kultivieren kann.
Ein Ort in uns, an dem wir uns selbst still begegnen, jenseits von Rollen, Erwartungen und Lärm.
Ein Raum, in dem das Wesentliche geschieht – nicht durch Tun, sondern durch Sein.
Und vielleicht ist es genau dieser Raum, den die Welt heute braucht:
Nicht mehr Stimmen. Sondern mehr Stille, die hört.
Mittlerer Teil – Stimmen der Einsamkeit
Es gibt Worte,
die nicht gehört werden wollen,
sondern verweilen möchten.
Wie Spuren im feuchten Sand.
Nicht laut, nicht belehrend.
Aber da.
Ein leiser Gang durch Räume der Stille.
Nicht um zu sammeln,
sondern um leer zu werden.
„Wer in der Gelassenheit lebt, den kann nichts mehr beunruhigen.“
(Meister Eckhart)
Kein Festhalten, kein Drängen.
Gelassenheit als leere Hand,
die nichts halten muss
und doch alles empfängt.
In ihr endet das Ringen.
Ein sanftes Einverstandensein
mit dem, was ist.
„Wahre Stärke liegt in der Sanftheit; wahre Macht in der Zurückhaltung.“
(Laotse)
Nichts treibt.
Nichts drängt.
Die Kraft liegt im Nichttun,
im leisen Halten.
Sanft wie Wasser,
das Felsen formt,
ohne Laut.
„Gelassenheit ist der Ozean, in dem alle Sorgen ertrinken.“
(Rumi)
Eine Tiefe,
in der die Oberfläche unwichtig wird.
Sorgen verlieren ihr Gewicht
in einem Raum,
der nichts will –
und gerade darin unendlich weit wird.
„Wenn du dich ganz von der Welt trennst, wird Gott sich ganz mit dir vereinen.“
(Isaac von Ninive)
Abwenden –
nicht aus Flucht,
sondern aus Hinwendung.
Das Getrennte vergeht,
das Wirkliche bleibt.
In der Einsamkeit:
eine neue Nähe.
„Die Höhle des Herzens ist weiter als das Universum.“
(Ramana Maharshi)
Kein äußerer Ort.
Kein Ziel.
Eine Öffnung,
die nicht zu fassen ist –
und doch alles umfasst.
Kein Licht,
aber klares Sehen.
„In der tiefsten Stille spricht Gott zur Seele.“
(Angelus Silesius)
Keine Sprache,
nur Gegenwart.
Nicht hörbar,
aber spürbar wie Wärme im Dunkel.
Ein Lautloses,
das alles berührt,
ohne sich zu zeigen.
„Werde leer – und du wirst voll.“
(Wüstenväter)
Nicht durch Fülle wird Fülle erfahren,
sondern durch das Verschwinden.
Wenn das Ich schweigt,
kann das Ganze sich zeigen.
Nicht als Etwas –
sondern als Gegenwart.
„Der Friede, den du in der Welt suchst, beginnt in deinem eigenen Herzen.“
(Franz von Assisi)
Keine Suche mehr.
Nur Heimkehr.
Frieden nicht als Zustand,
sondern als Erinnerung
an etwas,
das immer da war.
„Der Mensch, der inmitten von Leid gelassen bleibt, ist wahrhaft weise.“
(Bhagavad Gita)
Nichts weicht aus.
Nichts kämpft.
Das Innere hält still
und wird weit.
Gelassenheit –
nicht durch Abwesenheit von Schmerz,
sondern durch Tiefe,
die ihn umfängt.
„Ich bin in die Einsamkeit gegangen, nicht um mich zu finden, sondern um alles zu lassen, was ich nie war.“
(Unbekannt)
Ein Rückzug,
nicht zur Selbstsuche,
sondern zur Selbstentleerung.
Was bleibt,
wenn alles andere vergeht?
Vielleicht:
ein Raum,
kein Name,
nur Stille.
Abschlussteil – In das, was still bleibt
Es ist still geworden.
Nicht leer –
sondern weit.
Wie nach einem langen Regen,
wenn die Tropfen verstummen
und alles glänzt,
ohne sich zu zeigen.
Der Atem fließt weich und mühelos.
Die Zeit hat sich aus dem Raum zurückgezogen,
wie Ebbe vom Ufer.
Ein weiter Moment.
Vor dem inneren Auge entsteht langsam ein Ort.
Oder vielleicht:
Er zeigt sich von selbst.
Ein stiller Pfad,
aus weichem Moos,
eingebettet in dichte Bäume.
Die Luft ist kühl –
nicht kalt.
Sie trägt den Geruch von feuchtem Holz,
von Laub,
von etwas Erdigen, das trägt.
In der Ferne ruht ein sanftes Licht,
nicht grell –
eher wie Dämmerung,
die nicht weiß, ob sie kommt oder geht.
Der Boden federt sanft bei jedem Schritt,
als würde er das Gewicht nehmen,
ohne es zu bemerken.
Kein Ziel.
Nur Weg.
Und mit jedem Schritt
wird das Denken leiser,
der Blick weiter,
das Innere ruhiger.
Blätter flüstern im Wind,
kaum hörbar.
Manches bewegt sich –
und doch bleibt alles still.
Es ist,
als würde der Wald selbst atmen.
Und alles, was da ist,
gehört dazu.
Einfach so.
Ohne Mühe.
Ohne Grund.
Weiter hinten öffnet sich eine kleine Lichtung.
Ein stiller Kreis aus Gras,
gehalten von hohen Bäumen,
die keine Worte brauchen.
In der Mitte:
nichts.
Nur Stille.
Nur Sein.
Hier darf alles abfallen,
was nicht getragen werden muss.
Hier muss niemand etwas wissen,
nichts können,
nichts erreichen.
Hier darf alles einfach…
da sein.
Oder vergehen.
Oder ruhen.
Vielleicht sinkt der Körper nun nieder –
nicht weil er müde ist,
sondern weil der Boden ihn ruft.
Weiches Gras.
Ein leiser Hauch auf der Haut.
Ein Atem, der weiter wird.
Wärme,
die nicht aus einer Quelle kommt,
sondern aus dem Dazwischen.
Die Geräusche sind da –
aber sie drängen nicht.
Ein Vogel,
weit entfernt.
Ein Rascheln,
das vergeht,
bevor es kommt.
Wie Gedanken,
die keine Richtung finden
und darin:
Frieden.
Es gibt nichts zu tun.
Nichts zu erreichen.
Kein Name,
kein Ziel,
keine Notwendigkeit.
Nur ein Empfangen.
Oder ein Auflösen.
Vielleicht auch beides.
Der Körper löst sich nicht auf –
aber das,
was ihn umklammert hat,
weicht.
Wird weit.
Und wird…
leise.
Vielleicht ist das Stille.
Vielleicht ist das Gebet.
Vielleicht ist das –
einfach genug.
Und alles,
was jetzt noch bleibt,
ist ein Raum,
der nichts fordert
und doch trägt.
Wie ein Mantel aus Licht.
Wie der Schatten einer Ahnung,
die sich nicht erklären lässt –
aber spürbar ist
in jeder Zelle.
Ein letzter Hauch –
ein letzter Laut.
Dann:
nur Atmen.
Dann:
nur Sein.
Dann:
nichts mehr –
was nicht schon da war.
Hintergrundinformationen
Was ist ein Eremit?
Ein Eremit (vom griechischen „eremos“ = „einsam“, „wüst“) ist ein Mensch, der sich freiwillig aus der Gesellschaft zurückzieht, um in Einsamkeit zu leben. Ziel dieses Rückzugs ist meist eine tiefere spirituelle, religiöse oder philosophische Suche nach Wahrheit, innerer Ruhe oder göttlicher Verbindung.
Eremiten leben meist in Einzelheit – das heißt: sie leben allein, getrennt von der normalen Welt, ohne dauerhaften Kontakt zu anderen Menschen.
Typische Merkmale eines Eremitenlebens:
- Kontemplation
Das ist ein Zustand der stillen Betrachtung und des nach innen gerichteten Denkens. Ein Eremit verbringt viel Zeit in kontemplativer Haltung – zum Beispiel im Gebet, in der Meditation oder in der bewussten Wahrnehmung der Natur. - Askese
Askese bedeutet der bewusste Verzicht auf Genussmittel, Komfort und Luxus. Ein Eremit lebt oft sehr einfach, manchmal sogar entbehrungsreich, um sich nicht von äußeren Reizen ablenken zu lassen. Das kann heißen: spartanische Unterkunft, wenig oder schlichtes Essen, keine Unterhaltungselektronik usw. - Spiritualität
Das ist die persönliche Suche nach einem tieferen Sinn, nach göttlicher Wahrheit oder nach innerem Frieden. Nicht alle Eremiten sind religiös im engeren Sinn, aber sie alle suchen eine Verbindung zum Wesentlichen, sei es zu Gott, zur Natur oder zum Selbst. - Autarkie
Ein Eremit lebt oft autark, also selbstgenügsam. Das bedeutet: er versorgt sich selbst – z. B. durch Gartenbau, Wasser aus Quellen, Holz sammeln usw. Je nach Eremitenform kann es aber auch gelegentliche Hilfe von außen geben.
Historische Wurzeln:
Eremiten gibt es in vielen Kulturen und Religionen. Besonders bekannt sind:
- Christliche Eremiten (z. B. im Mittelalter), die in Kloster- oder Wüstenregionen gingen, um Gott näher zu sein. Berühmtes Beispiel: Antonius der Große (3. Jh.), gilt als „Vater des Mönchtums“.
- Buddhistische Einsiedler, die in Höhlen oder Hütten meditieren, um Erleuchtung zu suchen.
- Sufis im Islam, die in spiritueller Einsamkeit das Herz reinigen wollen.
In der christlichen Mystik wird der Rückzug in die Einsamkeit als Weg zur Vereinigung mit Gott verstanden – über das „innere Schweigen“, das „Loslassen des Ichs“ und die Öffnung zur göttlichen Wirklichkeit.
Moderne Eremiten:
Auch heute gibt es Eremiten. Manche leben religiös motiviert, andere aus psychologischen oder gesellschaftskritischen Gründen. Einige fliehen vor der Reizüberflutung oder der Schnelllebigkeit der Gesellschaft und suchen stattdessen innere Klarheit, Stille oder natürliche Rhythmen.
Zusammenfassung:
Ein Eremit ist also jemand, der sich freiwillig in die Einsamkeit zurückzieht, um ein reduziertes, oft spirituell ausgerichtetes Leben zu führen – jenseits von Konsum, Ablenkung und sozialem Alltag. Dabei steht nicht Flucht, sondern die konzentrierte Hinwendung zum Inneren im Vordergrund.
Es folgt eine Übersicht über verschiedene Formen des Eremitentums, jeweils mit kurzen Erklärungen:
Formen des Eremitentums
Nicht alle Eremiten leben gleich. Es gibt verschiedene Formen, je nach Motivation, Religion oder Lebensstil.
1. Religiös motivierte Eremiten
Diese Menschen ziehen sich zurück, um sich ganz Gott oder dem Göttlichen zu widmen.
- Christliche Eremiten
Schon früh in der Kirchengeschichte zogen sich Menschen in die Wüste zurück, um in der Nachfolge Christi zu leben – ohne Ablenkung durch Besitz, Familie oder Macht.
Beispiel:
Antonius der Große (3./4. Jahrhundert), ein ägyptischer Wüstenvater, lebte jahrzehntelang in völliger Einsamkeit. Seine Lebensweise inspirierte das christliche Mönchtum. - Katholische Kirche heute:
Auch heute erkennt die katholische Kirche das Leben als Eremit im kirchenrechtlichen Sinn an. Es gibt sogar eremitische Gelübde (Versprechen von Armut, Keuschheit, Gehorsam und Einsamkeit).
Diese Eremiten leben meist zurückgezogen, aber mit offizieller kirchlicher Zustimmung. - Buddhistische Eremiten
In vielen buddhistischen Traditionen ist der Rückzug in die Einsamkeit Teil des Weges zur Erleuchtung.
Besonders bekannt sind Waldmönche in Thailand oder Sri Lanka, die sich in der Natur niederlassen, meditieren, beten und in Achtsamkeit leben.
Sie leben sehr asketisch, teilweise mit nur einer Mahlzeit pro Tag, in stillen Hütten ohne Ablenkung. - Hinduistische Sadhus
Im Hinduismus gibt es die Sadhus – heilige Männer, die Besitz und Familie hinter sich lassen, um Moksha (Erlösung) zu suchen.
Sie leben oft in Höhlen, Wäldern oder Ashrams, praktizieren Meditation, Yoga und Fasten. - Sufi-Eremiten (Islam)
In manchen Sufi-Traditionen gibt es den Rückzug in die Khalwa – eine spirituelle Einsamkeit, in der der Suchende sich von der Welt abwendet, um sein Herz zu reinigen und Gottes Gegenwart zu erfahren.
2. Philosophisch oder persönlich motivierte Eremiten
Nicht alle Eremiten sind religiös. Manche Menschen wählen das Leben in Einsamkeit aus philosophischen, psychologischen oder gesellschaftskritischen Gründen.
- Henry David Thoreau (USA, 19. Jh.)
Er lebte zwei Jahre in einer einfachen Hütte am Walden-See, um „bewusst zu leben“.
Sein Buch „Walden – Leben in den Wäldern“ gilt bis heute als Klassiker einer zivilisationskritischen Lebensweise. - Moderne Eremiten
In abgelegenen Regionen leben auch heute Menschen ganz bewusst zurückgezogen:
z. B. in Berghütten, einsamen Waldhäusern oder Tiny Houses – ohne Internet, ohne Supermarkt, in radikaler Selbstversorgung.
Ihre Beweggründe sind oft:- Reizüberflutung
- Entschleunigung
- Naturverbundenheit
- persönliche Heilung
Gemeinsame Merkmale aller Eremitenformen
Unabhängig von Religion oder Herkunft teilen die meisten Eremiten folgende Elemente:
- Einsamkeit (Solitude)
Nicht als soziale Isolation, sondern als bewusst gewählte, schöpferische Stille. - Entsagung (Renuntiation)
Verzicht auf äußeren Besitz, Ablenkung und manchmal auch auf Beziehungen – um sich dem Wesentlichen zu widmen. - Inneres Streben
Ob nach Gott, Wahrheit, Erleuchtung oder Klarheit – im Mittelpunkt steht das Hören nach innen. - Einfachheit und Genügsamkeit
Die äußere Reduktion (wenig Besitz, wenig Ablenkung) spiegelt das innere Streben nach Klarheit wider.
Es gibt Formen von Eremitentum, bei denen Menschen zwar äußerlich in der Nähe anderer leben, aber innerlich und räumlich dennoch eremitisch bleiben. Man spricht dabei oft von „gemeinschaftlich lebenden Eremiten“ oder „eremitisch lebenden Gemeinschaften“. Das klingt widersprüchlich, ist aber ein gut dokumentiertes Phänomen.
Hier eine Erklärung:
1. Eremitische Lebensweise in Gemeinschaften
In bestimmten klösterlichen Traditionen leben Eremiten in räumlicher Nähe zueinander, teilen einige Grundstrukturen (wie liturgische Zeiten, Mahlzeiten, Regeln), behalten aber ihr eremitisches Leben weitgehend bei. Jeder hat seine eigene Zelle oder Hütte und verbringt den Großteil des Tages in Stille und Alleinsein.
Beispiele:
- Kartäuserorden (katholisch):
Die Mönche (und Nonnen in Parallelklöstern) leben in Einzelhäuschen (Zellen) rund um einen Kreuzgang.
Jeder versorgt sich weitgehend selbst, betet und isst in der Zelle – nur wenige gemeinsame Gebete oder Spaziergänge unterbrechen die Einsamkeit.
Die Kartäuser gelten als die strengste eremitisch-gemeinschaftliche Lebensform des Westens. - Karmeliten (ursprünglich):
Im Ursprung lebten die Karmeliten als Eremiten auf dem Karmelgebirge (Israel).
Später entwickelten sie klösterliche Gemeinschaften, in denen aber viele Elemente des Eremitendaseins erhalten blieben (Stille, Einzelzellen, Nachtwachen etc.). - Ostkirchliche Skiten:
In der orthodoxen Tradition gibt es sogenannte Skiten – das sind lockere Zusammenschlüsse von Eremiten (z. B. auf dem Berg Athos in Griechenland).
Jeder lebt in seiner Hütte oder Höhle, aber es gibt einen gemeinsamen Ort für Gottesdienst oder geistliche Begleitung.
2. Moderne Gemeinschaften mit eremitischem Geist
Auch heute entstehen neue Lebensformen, die Gemeinschaft und Eremitentum verbinden:
- Wahlverwandtschaften von Eremiten:
Menschen schließen sich lose zusammen – oft in derselben Region, vielleicht mit einem gemeinsamen geistlichen Lehrer –, aber jeder lebt für sich. - Eremitische Gemeinschaftsdörfer:
Manche spirituell orientierte Projekte bieten einfache, separate Wohnräume mit viel Stille, minimaler Struktur und gemeinschaftlicher Versorgung.
Jeder lebt für sich, doch man begegnet sich respektvoll in bestimmten Momenten (z. B. beim meditativen Essen oder einem wöchentlichen Austausch). - Neue Gemeinschaften mit eremitischer Option:
In manchen klösterlich inspirierten Gemeinschaften gibt es eremitische Zweige – etwa Menschen, die im Gästehaus mitarbeiten, aber einen „eremitischen Rhythmus“ pflegen.
Widerspruch oder fruchtbare Verbindung?
Einsamkeit und Gemeinschaft schließen sich nicht zwangsläufig aus. Entscheidend ist:
- Die bewusste Wahl der Zurückgezogenheit
- Der Respekt vor dem Schweigen anderer
- Eine klare Struktur, die Raum für Alleinsein lässt
Eremitentum in Gemeinschaft bedeutet:
Allein sein – aber nicht verlassen
Stille leben – aber eingebettet in wohlwollende Gegenwart
Übersicht: Gemeinschaftlich lebende Eremiten – Strukturvergleich
Modell / Tradition | Beschreibung | Grad der Gemeinschaft | Grad der Einsamkeit / Stille | Besonderheiten / Ziel |
---|---|---|---|---|
Kartäuserorden (seit 11. Jh., katholisch) | Klosterstruktur mit Einzelzellen, Selbstversorgung, Gebetszeiten. Jeder lebt allein in seiner Klause. | Sehr geringe Interaktion, wöchentlicher Spaziergang mit Gespräch erlaubt. | Sehr hoch – fast vollständige äußere und innere Stille. | Verbindung von Liturgie und radikaler Einsamkeit. Absoluter Vorrang der Kontemplation. |
Skiten (orthodoxe Kirche, z. B. Berg Athos) | Kleine Gruppen von Eremiten, oft in Höhlen oder Hütten. Lose Struktur mit einem geistlichen Leiter. | Gemeinschaft besteht meist nur aus gelegentlichem Gebet und Ratschlägen. | Sehr hoch, freiwillig gewählt. | Asketisches Leben in der Wüste. Freiheit des Geistes durch radikale Selbstführung. |
Karmeliten (ursprünglich eremitisch) | Vom Einsiedlertum zum Orden. Moderne Karmelklöster pflegen aber noch das innere Schweigen. | Klosterleben mit gemeinsamer Struktur, aber starker Betonung von Schweigen. | Mittel bis hoch – je nach Kloster. | Innere Sammlung, Schweigezeiten, Betrachtung des göttlichen Wortes. |
Zen-Retreatzentren mit Einzelhütten (z. B. im Westen) | Meditationszentren mit individuellen Rückzugsräumen. Gemeinsame Praxis, aber freiwillige Zurückgezogenheit. | Mittel – freiwillige Teilhabe an Gruppenübungen. | Mittel bis hoch. Meist nur beim Zazen gemeinsam. | Bewusste Schulung der Achtsamkeit und Selbstbeobachtung. |
Moderne spirituelle Dörfer mit eremitischen Zellen (z. B. in Frankreich, Indien oder online initiiert) | Kleine Hüttengemeinschaften mit autonomem Tagesablauf. Verbindung über Werte, nicht über Struktur. | Lose. Gemeinsame Rituale oder Treffen selten, aber möglich. | Hoch – jeder lebt für sich. | Rückzug in die Natur, Selbstversorgung, innerer Heilweg. |
Wahlverwandtschaften von Eremiten | Einzelne Eremiten leben in räumlicher Nähe (z. B. auf dem gleichen Berg oder Waldgebiet). Kein gemeinsames Haus. | Kaum Organisation. Austausch nach Bedarf. | Sehr hoch. Jeder organisiert sich selbst. | Innere Verbindung über ähnliche Geisteshaltung. |
Klöster mit „Einsiedlerhäuschen“ im Garten oder Gelände | Klassisches Kloster bietet einzelnen Mönchen/Nonnen die Möglichkeit zu vorübergehendem oder dauerhaftem Rückzug. | Abhängig vom Kloster – meist klare Struktur mit Freiraum. | Mittel – Mischung aus Klausur und Kontakt. | Balance aus aktiver Gemeinschaft und kontemplativem Rückzug. |
Gemeinsame geistige Merkmale dieser Lebensformen
Trotz unterschiedlicher Ausprägungen verbindet diese Modelle ein gemeinsamer innerer Kern:
- Verinnerlichung statt Isolation:
Die Einsamkeit dient nicht der Flucht, sondern der Vertiefung. Die eremitische Person sucht nicht Einsamkeit um der Einsamkeit willen, sondern um den Raum für Stille, Gebet, Meditation und Innenschau offen zu halten. - Bewusst gelebter Rückzug:
Der Rückzug erfolgt freiwillig und reflektiert – nicht aus Misstrauen oder Angst, sondern aus der Sehnsucht nach dem Wesentlichen. Es geht um die Reduktion auf das Wesentliche, auf das, was „nährt, trägt und trägt“ (wie es z. B. bei Mönchen formuliert wird). - Präsenz in der Verborgenheit:
Viele Eremiten fühlen sich innerlich verbunden mit anderen, obwohl sie äußerlich getrennt leben. Diese unsichtbare Gemeinschaft ist oft stärker als eine körperlich anwesende. - Verankerung in einem größeren Ganzen:
Ob Gott, Natur, Dharma oder das Selbst – die eremitische Haltung gründet sich auf eine geistige Verankerung, die den äußeren Rückzug mit innerem Sinn füllt. Ohne diese Verankerung droht die Einsamkeit leer oder sogar gefährlich zu werden.
Die paradoxe Kraft: Einsamkeit in Gemeinschaft
Der eremitische Weg in Gemeinschaft lebt von einem bewussten Spannungsverhältnis:
- Nähe ohne Ablenkung
- Freiheit ohne Entwurzelung
- Eigenverantwortung bei geistiger Verwobenheit
In gewisser Weise ist das der Kern aller tief spirituellen Lebensformen:
Man ist allein, aber nicht getrennt.
Man lebt im Schweigen, aber ist innerlich verbunden.
Man verzichtet auf Vieles, aber empfängt Tieferes.
Diese Lebensform lässt sich als ein Weg der inneren Souveränität beschreiben:
Der Mensch wird frei von äußeren Ansprüchen, weil er sich einem höheren, inneren Ruf verpflichtet.
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